Teil III – Rollen und Prozesse
Was bisher geschah…
Nachdem der Agilist und der Mentalist zusammen mit dem sonderbaren Professor Gold-Braun das reaktive und das magische Paradigma kennengelernt hatten, sind sie in die Zeit des tribal impulsiven Paradigmas gereist. Hier haben sie die tribale Organisation kennengelernt, die von Macht und Stärke dominiert wurde. Gerade noch einem blutigen Zusammenstoß zweier Stämme entkommen, befinden sie sich nun auf dem Weg, die nächste Evolutionsstufe der menschlichen Organisationsformen zu erkunden…
4.000 Jahre vor unserer Zeit
Wuuuuuusch! Die Welt um sie herum verschwamm, nur um kurz darauf in veränderter Form wieder aufzutauchen. Der Agilist sah fasziniert aus dem Fenster. Professor Gold-Braun hatte erklärt, dass sie in das Jahr 4.000 vor Christus zurückreisen würden. Hier würde man die nächste Evolutionsstufe der Organisationsformen beobachten können. Mittlerweile waren sie schon ganz gut darin, den Sportwagen, den Professor Gold-Braun zu der Zeitmaschine umgebaut hatte, in der neuen Umgebung zu verstecken und zu tarnen. Und wie bei ihrer letzten Reise hatte der Professor passende Kleidung für die Freunde zur Hand. Nachdem sie sich eingekleidet hatten, begaben sie sich auf eine kleine Wanderung ins Landesinnere.
“In den letzten Jahrtausenden hat sich die Umwelt für die Menschen ein wenig verändert”, begann der Professor zu erklären. “Die tribal impulsive Organisation, die wir beim letzten Mal besucht haben, hat so ihre Schwächen offenbart.” Der Agilist fragte nach: “Was für Schwächen denn, Professor?” “Nun, zum einen waren die Menschen, die wir beim letzten Mal besucht haben, ja noch nicht wirklich in der Lage in die Zukunft zu planen. Diese Unfähigkeit zur Planung und Strategie war eine der Hauptschwächen dieser Organisationsform.” “Und die anderen?” fragte der Mentalist nun, ebenfalls höchst interessiert. “Ein Problem war, dass kaum Wachstum möglich war. Da die Gruppe letztendlich nur durch die Stärke und die Angst vor dem Anführer zusammengehalten wurde, schwand der Einfluss dieses Anführers, je größer die Gruppe wurde.” “Die Entfernung zum Anführer war also ein begrenzender Faktor. Klar, wenn der Mafiaboss nicht mitbekommt, wie ich mich auflehne oder entferne, dann traue ich mich auch viel mehr.” resümierte der Agilist. Der Professor nickte. “Zudem hat natürlich auch das impulsive und ich-bezogene Verhalten dazu beigetragen, dass die Gruppe sehr instabil war.”
Eine erste Revolution
Mittlerweile waren sie durch einen kleinen Wald gewandert und auf einen breiteren Pfad gelangt. Sie folgten dem Pfad und kamen schließlich an einigen Feldern vorbei, auf denen sich ein paar Menschen abmühten, das Land zu bestellen. “Oh, das hier hatte ich fast vergessen”, sagte der Professor und hielt den beiden Freunden die Übersetzungspillen hin. Beide griffen sofort zu und schluckten die kleinen Helfer, die sie auf ihrer letzten Reise schon zu schätzen gelernt hatten. “Wie ihr sehen könnt, hat sich in den letzten Jahrtausenden in der Weltgeschichte einiges getan”, sagte der Professor und zeigte auf die Felder. “Die Menschen haben wohl die Landwirtschaft für sich entdeckt”, sagte der Agilist, als sei er im Geschichtsunterricht. “Genau, und diese Revolution hat nicht nur die Nahrungsmittelproduktion, sondern auch das Leben und Denken der Menschen fundamental verändert. So etwas wie Ackerbau ist nur dann möglich, wenn man ein lineares Zeitverständnis entwickelt und zumindest ein grundlegendes Verständnis von Ursache und Wirkung gebildet hat.” “Stimmt. Man muss schon mit einem gewissen Plan an die Sache herangehen und kann nicht nur in den Tag hinein leben. Man muss den Lauf der Jahreszeiten verstehen und schon im Frühjahr bei der Saat an die Ernte im Spätsommer denken.” “Und das ist ein ganz großer Fortschritt auch im Denken der Menschen”, bestätigte der Professor. “Aber nicht nur das. Durch die neue Qualität und Verfügbarkeit der Nahrungsmittel trennte sich die Gesellschaft auf. Die starke Klasse der Machthaber und Herrscher profitierte davon, dass die Bauern für sie arbeiteten und sie mit Nahrungsmitteln versorgten. Aber es konnte auch eine viel größere Anzahl an Menschen versorgt werden als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Somit entstanden die ersten Staaten und Zivilisationen.”
Auf dem Pfad vor ihnen sahen sie einen Mann an einem Baum lehnen. Er war so gekleidet wie die Männer, die auf den Feldern arbeiteten. Der Agilist nahm an, dass es einer der Bauern sein musste. Als der Mann sie sah nahm er Haltung an und kam auf sie zugelaufen. “Entschuldigt bitte Herrschaften”, sprach er sie untertänig an. “Ich habe mir nur erlaubt, eine kurze Pause einzulegen, weil meine alten Knochen so schmerzen. Ich bin für gewöhnlich der erste auf dem Feld und der letzte, der es wieder verlässt.” “Schon gut”, sagte der Professor und mit einer jovialen Handbewegung wies er den Bauern an, zu den anderen zu gehen, was dieser auch sogleich tat. Verwundert sahen sich der Agilist und der Mentalist an. Der Professor sah in ihre fragenden Gesichter und begann dann zu erklären: “Hier konnten wir gleich zwei interessante Dinge beobachten. Zum einen hat unser Freund uns aufgrund unserer Roben gleich mit einem gewissen Stand in Verbindung gebracht. In der Gesellschaft herrschte eine strenge Hierarchie. Und das andere spannende an unserer Begegnung war, dass die Menschen in dieser Zeit – im Gegensatz zu denen im tribalen Paradigma – sehr wohl in der Lage waren, Gefühle und Wahrnehmungen anderer wahrzunehmen. Und diese Wahrnehmungen anderer über einen selbst waren den Menschen sehr wichtig.” “Faszinierend”, sagten der Mentalist und der Agilist wie aus einem Munde.
Die traditionelle Organisation
Sie folgten dem Pfad und schon kurze Zeit darauf sahen sie in der Ferne die hohen Mauern einer Stadt aufragen. Als sie sich näherten, sahen sie am Stadttor einen Mann mit einer Lanze stehen, der sie kritisch musterte. “Lasst mich reden”, wies sie der Professor an und trat auf den Mann zu. “Halt, wer da?” rief der Mann in rauem Ton und senkte seine Lanze in Richtung der drei Besucher. “Wir begehren Einlass. Meine beiden Begleiter und ich sind im Auftrag des Herrschers unterwegs um nach dem Stand des Korns zu sehen.” Der Mann musterte sie kritisch, schulterte dann aber wieder seine Lanze und öffnete das einfache Holztor hinter ihm, um ihnen den Zugang in die Stadt zu gewähren. “Der Kornspeicher ist die Straße runter”, rief er ihnen hinter, “meldet euch beim Zählmeister”. Der Professor winkte kurz zum Dank, dann schloss sich das Tor wieder hinter ihnen.
Sie gingen an einem großen freien Platz inmitten der einfachen Häuser vorbei und beobachteten dort eine Reihe junger Männer, die Kampfübungen durchführten. Ein paar Meter weiter sahen sie durch die offenen Türen und Fenster einiger Häuser Männer und Frauen, die Speisen zubereiteten. Der Professor begann zu erklären: “Hier sehen wir eine deutliche Weiterentwicklung gegenüber den bisherigen Organisationsformen. Wir sehen Soldaten, Bäcker, Wächter, Hauptmänner und so etwas wie erste Verwalter. Wir haben es also mit formalen Rollen zu tun, die für bestimmte Aufgaben verantwortlich sind, die sich in das Gesamtsystem integrieren. Hinzu kommen klare Prozesse. Der Wächter am Tor wird sich bei jedem neuen Besucher auf die gleiche Art und Weise verhalten wie bei unserem Annähern. Das gibt Sicherheit im Handeln und macht die Aufgabe unabhängig von Personen. Wenn die Wachablösung stattfindet und ein anderer Wächter am Tor Stellung bezieht, dann wird er sich genauso verhalten, wie sein Vorgänger.” “Das heißt”, resümierte der Agilist, “die Menschen sind jetzt also austauschbar.” Der Professor nickte. “Genau. Aber genau das bietet natürlich der gesamten Organisation auch eine gewisse Stabilität und Sicherheit.”
Die Freunde liefen noch eine Zeit lang durch die Stadt und sahen sich interessiert das Treiben in den Häusern und auf den Plätzen an. Auf einem Marktplatz machten sie eine kurze Pause und stärkten sich durch ein wenig Wasser aus dem Brunnen in der Mitte des Platzes. Kurz darauf hörten sie einen lauten Schrei: “Haltet den Dieb”. Dann sahen sie, wie ein junger Mann versuchte, sich schnell durch die Menge zu entfernen. Jedoch kam er nicht besonders weit, denn schon kurz darauf war er von ein paar Männern umringt. Interessiert beobachteten die drei Besucher aus der Zukunft, was als nächstes geschehen würde. Der junge Dieb wurde erst einmal von zwei Männern festgehalten, während ein anderer in den Gassen verschwand, nur um kurze Zeit später mit einem weiteren Mann, der sehr wichtig aussah, wieder aufzutauchen. “Oh”, sagte der Professor, der die Robe des Neuankömmlings zu erkennen schien, “sieht so aus, als habe er den Statthalter geholt.” Sofort machten die Menschen Platz und die interessierten Beobachter wurden Zeuge einer frühzeitlichen Gerichtsverhandlung.
“Du hast gegen die Gesetze unseres Herrschers verstoßen”, klagte der Statthalter den Dieb an. Die Menge murmelte zustimmend. Der junge Dieb zappelte in den Armen der beiden Männer, die ihn festhielten. “Meine Familie hat seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Wir haben Hunger. Soll ich meine Schwestern und Brüder einfach verhungern lassen?” versuchte dieser sich zu verteidigen. Der Statthalter sah ihn kalt an. “Du kennst unsere Gesetzte und weißt, was auf Diebstahl steht.” Das Gesicht des jungen Mannes wurde weiß. “Wir haben klare Gesetze, die für jeden gelten. Du hast dagegen verstoßen. Daher musst du bestraft werden!” sprach der Statthalter das Urteil. Der Professor gab dem Agilisten und dem Mentalisten mit einem Wink zu verstehen, dass es an der Zeit sei, die Szenerie zu verlassen.
Die traditionelle Organisation in unserer Zeit
Kurz darauf befanden sie sich wieder außerhalb der Stadtmauern auf dem Weg zurück zum Wagen. Der Agilist brach das Schweigen als erster: “Was werden sie mit dem Jungen machen?” fragte er den Professor. “Soweit ich weiß”, antwortete dieser bedächtig, “hat man in dieser Zeit einem Dieb seine Hand abgeschlagen.” Mentalist und Agilist blieben schockiert stehen. “Aber das steht doch in keinem Verhältnis. Seine Familie hungert doch!”, riefen sie wie aus einem Mund. “Ja”, sagte der Professor, “aber das ist eben auch ein Merkmal des traditionell konformistischen Paradigmas, aus dem die Menschen ihre Welt sehen. Sie haben eine statische Weltsicht mit klaren Gesetzen. Sie wägen nicht ab und berücksichtigen äußere Umstände oder einen veränderten Kontext. Die Gruppennormen stehen über allem und sind so gut wie gar nicht veränderlich.”
Nach einiger Zeit fragte der Mentalist den Professor: “Wenn es selbst in unserer Zeit noch tribale Organisationen wie die Mafia gibt, dann gibt es doch sicherlich auch noch diese Organisationsform?”. Der Professor nickte. “Natürlich, und angelehnt an das traditionell konformistische Paradigma, das ihnen zugrunde liegt, bezeichnen viele Experten diese Organisationen als traditionelle Organisationen.” “Gemäß der Ich-Entwicklung würde ich dieses Paradigma ungefähr auf Stufe E4, der gemeinschaftsbestimmten Phase sehen”, überlegte der Mentalist laut. Der Professor nickte zustimmend. “Dann sehen statistisch immer noch ungefähr 12% der Menschen die Welt aus einem ähnlichen Paradigma. Das spricht dann aber doch dafür, dass es nicht mehr ganz so viele Organisationen dieser Form gibt, oder?” Jetzt schüttelte der Professor den Kopf. “Nein, das kann man so nicht sagen. Der Zusammenhang von der Art und Weise wie die Menschen die Welt sehen und der Organisationsform, die sich daraus ableitet, ist nur im historischen Kontext zu sehen. Ich habe euch in die jeweiligen Zeitperioden geführt, wo das Denken der Menschen diese frühen Organisationsformen gerade ins Leben gerufen hat. Hier sind sie eine natürliche Folge vom veränderten Denkansatz. Aber auch in der Zeit, in der wir uns jetzt aktuell befinden, gibt es zum Beispiel noch eine große Anzahl tribale Organisationen. Eine neue Form der Organisation setzt sich immer erst langsam durch und nicht alle bisherigen Organisationen verschwinden oder passen sich an”. “Okay, und die Mitglieder dieser früheren Organisationen können die Welt auch schon aus einem neuen Paradigma sehen.” “Genau. Ebenso, wie es vielleicht auch in der Stadt, die wir gerade besucht haben, noch Menschen gibt, die die Welt in einem tribal impulsiven Paradigma, also einem früheren, betrachten.” “Alles klar, das heißt, in unserer Zeit kann es immer noch eine Reihe von traditionellen Organisationen geben, obwohl wahrscheinlich sehr viele Mitglieder dieser Organisation die Welt schon aus einem späteren Paradigma betrachten?” “Exakt”, lobte der Professor. “In der Tat ist es so, dass in unserer Zeit noch eine ganze Reihe von traditionellen Organisationen bestehen.” “Welche denn?” fragte der Agilist. “Na, denkt doch mal nach”, forderte der Professor sie auf. “Welche Organisationen haben starke formale Rollen, viele klar geregelte Prozesse, eine starre Hierarchie und leben von einer Stabilität und Kontrolle?” “Hmm, das hört sich sehr stark nach der Armee an”, sagte der Agilist. “Genau, aber nicht nur. Fällt euch noch etwas ein?” “Verwaltungen? Hier gibt es Rollen und Prozesse zu Hauf.” Der Professor nickte anerkennend und ergänzte: “und so viele Formalitäten. Was denkt ihr, wie viele Anträge ich ausfüllen und wie viele Personen bestechen musste, um eine Straßenzulassung für meinen Sportwagen zu bekommen”. Alle lachten. Dann ergänzte der Professor die Auflistung: “Aber auch die Kirche und sogar viele Schulen werden von patriarchischen Autoritäten geführt und sind nach einem mehr oder weniger traditionellen Schema aufgebaut. Natürlich hat sich auch die traditionelle Organisation im Laufe der Zeit weiter entwickelt und es gibt auch innerhalb einer solchen Klassifizierung Abstufungen. Aber im Prinzip sind Armeen, Verwaltungen, die Kirche und Schulen sehr gute Beispiele für traditionelle Organisationen in unserer heutigen Zeit.” “Spannend”, murmelte der Mentalist, während er die Tarnplane von der Zeitmaschine entfernte, an der sie mittlerweile angekommen waren.
“Wo werden wir als nächstes hinreisen?” fragte der Agilist, als der Professor das Auto auf Kurs in Richtung Gegenwart gebracht hatte. “Beim nächsten Mal”, sagte der Professor verschwörerisch, “werden wir uns die zweite große Revolution in der Menschheitsgeschichte ansehen.”
(Für weitereführende Informationen: Frederic Laloux, “Reinventing Organisations”)