Was bisher geschah: Das Unternehmen stand vor dem Aus und der Manager hatte den Agilist und den Mentalist um Hilfe gebeten. Nachdem er verstanden hatte, wie die VUCA-Welt sein Unternehmen bedrohte, und wie er darauf reagieren könne, begann er mit der Umsetzung. Die acht Schritte der Veränderung sollten ihm dabei helfen. Doch als unsere Freunde ein paar Monate später erneut zur Hilfe gerufen wurden, fanden sie einen Cargo-Cult vor. Nun galt es, diesen möglichst schnell auszuräumen…
Unsere Freunde, der Agilist und der Mentalist, wurden in einen Besprechungsraum geführt, in dem schon einige Menschen Platz genommen hatten. Als der Manager sie sah, begrüßte er sie herzlich. Er stellte kurz die übrigen Personen im Raum vor. Dabei handelte es sich um diejenigen, die die neu geschaffenen Rollen im Unternehmen ausfüllten, darunter Product Owner, ScrumMaster und einige weitere.
Nachdem der Agilist noch einmal die Erkenntnisse aus der letzten Zusammenkunft zusammengefasst und den Anwesenden den Cargo-Cult verdeutlicht hatte, herrschte betroffenes Schweigen in dem großen Raum. Schließlich ergriff einer der anwesenden ScrumMaster das Wort: “Sie haben gesagt, dass der Cargo-Cult aus einem Unverständnis entstanden ist. Aber wir kennen doch unser Umfeld und haben es sehr gut verstanden. Und wir haben daraus geschlossen, dass manche Teile von Scrum als Rahmenwerk einfach nicht in unsere Umgebung passen. Also haben wir sie weggelassen oder entsprechend angepasst, so dass sie zu unseren Strukturen passten. Das ist doch sogar gewünscht, heißt es nicht ‘Inspect and Adapt’, also dem Kontext entsprechend anpassen?” Der Agilist hörte aufmerksam zu, was der ScrumMaster sagte und antwortete dann: “Doch, natürlich. Inspect and Adapt ist ein ganz wichtiges Prinzip. Sie haben vollkommen zu Recht gesagt, dass Sie Ihren Kontext sehr sehr gut kennen. Aber wie gut kennen Sie das Rahmenwerk Scrum?” “Nun ja”, antwortete der ScrumMaster, “wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt und es studiert. Zudem waren wir ScrumMaster und die Product Owner alle auf Schulungen.” Der Agilist nickte wissend und sagte: “Das habe ich erwartet. Sie haben also keine praktische Erfahrung damit.” Die Anwesenden nickten zögerlich. Dann wandte der Agilist sich an seinen Freund, den Mentalisten, der sich bisher sehr zurückhaltend in einer Ecke des Raumes aufgehalten hatte. “Magst du ihnen vielleicht die Geschichte von Karate Kid erzählen?”
Der Mentalist begann: “Sie kennen doch sicherlich alle den Film Karate Kid. Der junge Daniel lernt einen Karatelehrer kennen. Mister Miyagi, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm Karate beibringt. Dabei wählt er einen sehr merkwürdigen Weg, weil er Daniel mit sehr alltäglichen Aufgaben ausstattet. Der Junge versteht erst gar nicht, was Miyagi von ihm möchte. Er will ein erfolgreicher Karatekämpfer werden, aber sein Lehrer lässt ihn nur das Auto waschen. ‘Auftragen, polieren, auftragen, polieren’. Später im Film kommt Daniel dann in eine Situation, in der er tatsächlich mit einem Gegner konfrontiert ist. Als dieser ihn angreift vollführt Daniel fast automatisch Bewegungen, die den Angriff abwehren. Spannenderweise sind es genau die Bewegungen, die er unter anderem beim Autowaschen gelernt hat. Im weiteren Verlauf des Films beginnt er dann die Bewegungen anzupassen und auch eigene Elemente einfließen zu lassen. Dabei wählt er einen außergewöhnlichen Karate Stil, der viele der anderen Kämpfer überrascht, weil er nicht dem klassischen Karate entspricht. Dieser Stil stammt von Miyagi, der ihn selbst entwickelte.
Was wir hier erkennen ist ein Dreischritt, den wir – in Bezug auf das Erlernen von Kampfsporttechniken – Shu-Ha-Ri nennen. Der erste Schritt, Shu, bedeutet, sich erst einmal ganz genau an die Regeln zu halten. Es ist wie im Trockenen die Schwimmbewegungen zu üben oder – wie Daniel bei Mister Miyagi – ein Auto zu polieren. Auf diese Weise gehen Verhaltensweisen und Techniken in Routine über. Der zweite Schritt ist dann Ha. Hier nimmt man kleine Anpassungen vor und reagiert auf sich verändernde Situationen. So wie Daniel, der jetzt diese Fähigkeiten in einem Kampf nutzt und dabei Variationen einbaut. An dieser Stelle hat der Anwender aber schon Erfahrungen gesammelt, wie die Technik wirkt, wenn man sie streng nach Vorgabe einsetzt. Dadurch kann er auch erkennen, welche Effekte seine Variationen bewirken. Führen sie zu einer Verbesserung oder sind sie eher eine Verschlechterung? Auf dieser Stufe finden viele Experimente und Anpassungen statt. Und irgendwann vielleicht hat der Anwender so viele Erfahrungen gesammelt, dass er die dritte Stufe erreicht: Ri. Dies ist die Stufe der Meisterschaft. Hier ist kein Rahmen und keine vorgegebene Technik mehr notwendig, weil die Prinzipien und das Wissen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Mister Miyagi befindet sich auf dieser Stufe. Er wendet kein Karate an, er ist Karate. Er vollführt Bewegungen, die aus dem Moment heraus entstehen und nicht zum klassischen Repertoire gehören. Dabei steht er immer im völligen Einklang mit den Prinzipien und Werten, die Karate zu Grunde liegen.”
Nun ergriff der Agilist wieder das Wort: “Lassen Sie uns das Prinzip auf Ihr Vorgehen übertragen. Sie haben beschlossen, Scrum als Rahmen zu nutzen. Allerdings sind sie gleich auf Ha eingestiegen. Sie haben begonnen, Anpassungen vorzunehmen und wichtige Rahmenelemente wegzulassen oder abzuändern. Allerdings fehlte Ihnen das, was Daniel durch seine vorherigen Übungen besaß: die Routine und Erfahrung, wie die Grundtechniken funktionieren und wirken. Dadurch konnten Sie auch nicht erkennen, ob Ihre Anpassungen eine Verbesserung oder eine Verschlechterung darstellten. Das führte dann zu den Verhaltensweisen, die wir als Cargo-Cult bezeichnet haben.”
Ein Product Owner nickte verständnisvoll. “Ich glaube, ich habe verstanden, was Sie meinen. Wir hätten also erst einmal die Elemente von Scrum einfach ausführen sollen, egal was für Vorannahmen wir in Kenntnis unseres Unternehmens darüber hatten. Um dadurch herauszufinden, wie die Elemente zusammenspielen.” “Genau”, bestätigte der Agilist. “Scrum ist ein Rahmen, der aus recht wenigen Regeln besteht. Diese vorhandenen Regeln führen, wenn man sie sinngemäß anwendet, zu den gewünschten Ergebnissen. Sie greifen ineinander. Wenn Sie diese Regeln streng ausführen, dann lernen Sie, wie Scrum funktioniert. Durch die Anwendung entwickeln Sie ein Verständnis, wie die Elemente aufeinander aufbauen und zusammenspielen.” “Aber es heißt doch, man soll Scrum auf den Kontext anpassen und damit experimentieren”, warf ein ScrumMaster ein. “Das stimmt”, antwortete der Agilist, “das ist auch wichtig. Denn vielleicht gibt es Anpassungen, die in Ihrem Kontext besser passen und es Ihnen erlauben, die Ergebnisse schneller oder mit weniger Anstrengung zu erreichen. Allerdings ist das dann schon die Stufe Ha. Sie können ja nur dann damit experimentieren und es anpassen, wenn Sie einschätzen können, ob die Anpassung eine Verbesserung mit sich bringt. Dafür müssen Sie aber einen Referenzpunkt haben. Also Scrum in seiner Grundform. Und da führt kein Weg daran vorbei, mindestens die Shu-Stufe durchlaufen zu haben.”
Langsam hellten sich die Mienen auf und die Anwesenden verstanden, was zu dem Cargo-Cult geführt hatte. Nur der Manager sah etwas unglücklich aus. Zwar hatte er nun eine Erklärung für die Beobachtungen, allerdings war er etwas verzweifelt. Denn die Zeit drängte und das Unternehmen musste unbedingt wieder zurück in die Erfolgsspur. Er konnte es sich einfach nicht erlauben, die Zeit mit ‘Auftragen und Polieren’ zu verschwenden, wenn es doch wichtige Kämpfe auszutragen galt. Doch auch hier hatte der Agilist eine Antwort: “Am besten ist es, sich für diese Zeit der Krise entsprechende Unterstützung von außen zu holen. Suchen Sie sich Ihren Mister Miyagi. Dieser sollte genau wissen, welche grundlegenden Übungen unbedingt notwendig sind und wo Sie Anpassungen vornehmen können. Er kann das einschätzen, weil er die Erfahrung mitbringt, die Ihnen noch fehlt. Dann nutzen Sie die Zeit und bauen sich Ihre internen Wissensträger auf. So wie Daniel im Laufe der Filmreihe immer autonomer von Miyagi wurde, so sollten auch Sie sich Ihre eigenen Coaches und Berater aufbauen.”
Das beruhigte den Manager erst einmal ein wenig. Immerhin wusste er jetzt was zu tun war. Und so begab er sich recht bald auf die Suche nach geeigneten Unterstützern, die über das Wissen verfügten, das in der jetzigen Phase so unglaublich wertvoll für sein Unternehmen war.
Ende gut, alles gut. Doch halt, es sollte noch nicht der letzte Besuch unserer Freunde beim Manager gewesen sein. Doch davon später mehr…
Fortsetzung folgt…