KRACKS! Der Agilist erschrak. Was war das vorhin für ein merkwürdiges Geräusch? Das hatte sich alles andere als gut angehört. “Ach, das war schon nichts“, versuchte er sich zu beruhigen. Dann blickte er zum Mentalisten auf dem Beifahrersitz. Hatte er das auch gehört? Der Mentalist sah ihn nur fragend an, sagte aber nichts. Der Agilist stellte den Motor ab. “Ich habe mich bestimmt geirrt und mir das nur eingebildet“, beruhigte er sich. “Was ist los?“, fragte der Mentalist. “Ach, nichts“, antwortete der Agilist, “ich bin wohl nur über eine Getränkedose gefahren, die ein merkwürdiges Geräusch gemacht hat“. Der Mentalist zog kritisch eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. “Ich werde schon nicht das andere Auto berührt haben. Das muss etwas anderes gewesen sein“, setzte der Agilist nach.
Mittlerweile hatte der Mentalist schon die Tür geöffnet und sah sich das Auto an, das in der Parklücke direkt nebenan stand. Als der Agilist hinzu trat und die zerkratzte Stelle an der Karosserie sah, wurde er wütend. “War ja klar, so blöd wie der hier eingeparkt hat musste das ja jetzt passieren. Der steht ja viel zu weit rechts. Wenn er die Parklücke besser genutzt hätte, dann wäre das niemals passiert. Ist er doch selbst Schuld.” Mit hochrotem Kopf betrachtete er den Schaden, den er beim Einparken verursacht hatte.
Der Mentalist stand entspannt an den Kofferraum des Wagens gelehnt und beobachtete den Agilisten, der mit seiner Handykamera den Schaden fotografierte. “Naja“, murmelte dieser, “das passiert doch jedem Mal“. Er sah den Mentalisten an, der nur zustimmend nickte. “Es ist ja nichts ungewöhnliches, dass solche Dinge in diesen engen Parkhäusern vorkommen. Das ist hier bestimmt an der Tagesordnung.”
Der Agilist steckte sein Handy wieder in die Jackentasche und ging dann hinüber zum Mentalisten. “Ach, aber dass das mir jetzt wieder passieren musste. Ich war einfach viel zu unkonzentriert. Ich wollte pünktlich zu unserem Termin erscheinen und habe deshalb nicht so aufmerksam darauf geachtet. Das ist so typisch für mich. Ich bin einfach kein guter Autofahrer. Und unter Stress wird das noch viel verheerender…” Noch immer blieb der Mentalist stumm und sah dem Agilisten zu, wie dieser die Beifahrertür öffnete und begann im Handschuhfach zu kramen.
Schließlich zog der Agilist triumphierend eine Karte heraus und klemmte sie dem parkenden Auto hinter die Windschutzscheibe. “Ich hinterlasse schon mal meine Daten und ein Versicherungskärtchen“, erklärte er dem Mentalisten. “Der Schaden ist jetzt halt angerichtet und ich muss dafür Verantwortung übernehmen. Schließlich würde ich auch nicht wollen, dass jemand bei mir einen Schaden verursacht und dann einfach verschwindet.” Der Mentalist nickte anerkennend. “Lass uns zum Parkwächter gehen und ihn auch über den Umstand informieren.” Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
Nachdem der Agilist den Parkwächter informiert hatte und auch hier seine Kontaktdaten hinterlegt hatte, verließen sie das Parkhaus und machten sich auf den Weg zum Kunden. Es herrschte eine ungewohnte Stille, die schließlich der Agilist brach, indem er meinte: “Ich denke, ich werde in Zukunft ein paar Dinge ändern müssen. Dieses Missgeschick wäre doch absolut zu vermeiden gewesen. Wäre ich nicht so in Gedanken gewesen und wäre mit der nötigen Ruhe und Konzentration in die Parklücke gefahren, dann wäre nichts passiert. Ich werde in Zukunft einfach beim Einparken genauer hinschauen und mit voller Konzentration dabei sein. Dafür schalte ich das Radio ab, sobald ich in eine Parklücke fahren möchte.” Der Mentalist nickte anerkennend.
“Du hast seitdem wir ausgestiegen sind so gut wie kein Wort geredet“, stellte der Agilist fest. “Das ist richtig“, antwortete der Mentalist. “Ich war fasziniert und gespannt zugleich.” Nun sah der Agilist ihn fragend an. “Weshalb warst du gespannt?” fragte er ihn. “Ob du die Verantwortung letztendlich übernehmen wirst, oder ob du auf einer der Zwischenstufen bleiben würdest.” Der Agilist verstand nicht ganz, worauf der Mentalist hinaus wollte. “Aber natürlich übernehme ich die Verantwortung“. Für ihn war es gar keine Frage. Was dachte sich der Mentalist bloß?
Beschwichtigend hob der Mentalist beide Hände. “Weißt du“, sagte er in entspanntem Tonfall, “auf dem Weg bis zur Übernahme echter Verantwortung gibt es laut einem bekannten Modell von Christopher Avery feste Stufen, die durchlaufen werden. Und auf jeder Stufe gibt es auch die Möglichkeit, den Prozess komplett zu verlassen. Nicht jeder wird also bei der echten Verantwortung ankommen. Im Gegenteil, sehr viele Menschen bleiben sogar auf dem Weg dorthin auf einigen der Vorstufen stecken.” Nun war der Agilist gespannt, wie in den meisten Fällen, wenn der Mentalist ihn an seinem Wissen teilhaben ließ. “Und welche Stufen sind das?” fragte er neugierig.
“Die erste Stufe ist die Stufe des Verleugnens“. Der Agilist nickte still. “Also der Zeitpunkt, als ich mir eingeredet habe, dass da gar kein Geräusch gewesen ist, oder dass es von etwas ganz anderem herrührt.” “Genau“, stimmte der Mentalist bei.
“Die nächste Stufe besteht darin, das Ereignis zwar anzuerkennen, die Schuld aber bei jemand anderem oder einem äußeren Umstand zu suchen.” Der Agilist wurde etwas verlegen und nickte zaghaft. “Na ja, der andere hätte zwar etwas besser parken können, aber natürlich war das Unglück nicht seine Schuld.”
“Auf der dritten Stufe sucht man nach Rechtfertigungen. Man relativiert das Ereignis und redet sich ein, dass es jedem hätte passieren können und dass das auch etwas ganz normales ist.” Der Agilist musste grinsen. “So wie wenn man sagt, dass das sicher ständig in dem engen Parkhaus passiert und etwas ganz alltägliches ist?” “Genau“, stimmte der Mentalist erneut mit einem Augenzwinkern zu.
“Was passiert auf der vierten Stufe?” wollte der Agilist jetzt wissen. “Hat es etwas mit meinem Schamgefühl zu tun, dass sich dann eingestellt hat?” Der Mentalist nickte anerkennend. “Genau das. Auf der vierten Stufe entsteht meistens ein Schamgefühl oder das Gefühl, einfach zu schlecht für eine gewisse Tätigkeit zu sein, die zu dem Ereignis geführt hat.”
Der Agilist dachte nach. “Okay, aber dann bin ich doch am Ende der Treppe angelangt, oder? Im nächsten Schritt habe ich doch meine Karte hinterlassen, den Wächter informiert und somit die volle Verantwortung für mein Handeln übernommen.” Der Mentalist schüttelte den Kopf. “Nicht ganz. Diese Stufe wird in dem Modell als Obligation oder Verpflichtung bezeichnet. Das heißt, man übernimmt noch nicht wirklich die Verantwortung, sondern man hält sich an gewisse Konventionen oder orientiert sich an einem Pflichtgefühl gegenüber anderen.” “Aber ist das nicht auch schon die Übernahme von Verantwortung“, hakte der Agilist nach. “Schon“, antwortete der Mentalist, “aber es ist noch nicht wirkliche Verantwortungsübernahme. Es gibt noch eine weitere Stufe, wo das Ereignis komplett akzeptiert und integriert wird. Dann wird auch die volle Verantwortung übernommen.” Der Agilist dachte für ein paar Momente nach. Dann nickte er kaum merklich und schließlich platzte es aus ihm heraus: “Du meinst die Verantwortung in dem Sinne, dass ich das Ereignis annehme wie es ist und nach Wegen suche, ein solches Ereignis in Zukunft zu vermeiden. Also zum Beispiel indem ich mich mehr konzentriere und das Radio beim Einparken ausschalten werde.” Der Mentalist lächelte, als er ihm antwortete: “Genau, das ist das Ende der Treppe. Und leider gibt es auf allen Stufen die Möglichkeit, auszusteigen. Du hättest einfach so tun können, als sei nichts gewesen. Oder du hättest die Schuld weiterhin bei anderen suchen können. Die meisten verantwortungsbewussten Menschen kommen immerhin zu dem Punkt, wo sie der Verpflichtung folgen. Aber nicht alle erreichen die letzte Stufe der Verantwortungsübernahme.”
Als die beiden nach einem erfolgreichen Termin wieder im Auto saßen und sich auf den Heimweg machten, griff der Agilist das Thema noch einmal auf. “Sagt das Modell etwas darüber, ob alle Stufen durchlaufen werden und wie man höhere Stufen schneller erreichen kann?” Der Mentalist dachte kurz nach. “Das Modell geht davon aus, dass in der Regel alle diese Stufen durchlaufen werden müssen, bevor es zu echter Verantwortungsübernahme kommt. Allerdings sagt es auch, dass die Kenntnis des Modells und die bewusste Orientierung daran hilfreich ist, zu echter Verantwortung zu gelangen und die Zwischenstufen schneller zu durchlaufen.” “Dann habe ich ja heute schon den ersten Schritt getan“, freute sich der Agilist. “Ich kann es kaum erwarten, dieses Modell mit meinem Team zu besprechen“.
Weitere Informationen: https://www.christopheravery.com/
3 Gedanken zu “Wer übernimmt Verantwortung?”
Eine sehr schöne und gelungene deutsche Beschreibung des Verantwortungsmodells nach Avery.
Danke Thomas!
Gefällt mir auch sehr gut. Und wieder sind die Beispiele so gut, dass man gar nicht viel braucht um das Modell zu verstehen und es auch direkt auf seinem Alltag (nicht nur auf die Arbeit) übertragen kann.
Ich habe mich gefragt, wie wäre die Geschichte abgelaufen, wenn der Agilist früher ausgestiegen wäre? Wenn er es gar nicht eingesehen hätte, dass er die Verantwortung übernehmen muss? Passiert doch so häufig in Projekten. Leider häufiger als der Fall, dass man am Ende der Treppe angelangt… was hätte der Mentalist wohl dann gemacht?