Der Mentalist schenkte dem Agilisten noch eine Tasse Tee nach. Es war Sonntag Nachmittag und die beiden Kollegen hatten sich verabredet um die kommende Firmengala vorzubereiten. Sie hatten sich beide für diese Aufgabe freiwillig gemeldet und nun endlich Zeit gefunden, einen Ablauf zu erstellen.
“Wir müssen daran denken, dass Herr Meier als letzter seine Begrüßungsrede zum Besten gibt” , sagte der Mentalist, “er besteht immer darauf, dass er das Buffet eröffnen darf, wo er es doch schon sponsert.” Der Agilist nickte. “Und dann ist es natürlich wichtig, dass das Essen auch fertig ist. Was denkst du wie lange die Reden dauern werden?” Der Mentalist dachte kurz nach. “Herr Meier fasst sich ja immer recht kurz, das wird wahrscheinlich wieder maximal 10 Minuten dauern. Aber Frau Bach und Herr Knoll brauchen in der Regel etwas länger.” “Stimmt” , pflichtete der Agilist bei. “Ich denke, dass alle drei Reden zusammen so ungefähr 45 Minuten in Anspruch nehmen werden” . Der Mentalist notierte eifrig auf seinem Block. “Dann muss das Essen um 19.30 Uhr fertig sein. Falls doch jemand von den Rednern Erbarmen mit den Gästen hat und sich kürzer fasst, dann ist das Essen trotzdem bereit.” Der Agilist lachte. “Genau, und ansonsten ist es immerhin noch warm, wenn die Gäste endlich ans Buffet kommen.”
Nachdem das geklärt war kramte der Agilist in seiner Tasche und zog ein vollgeschriebenes Blatt Papier heraus. “Das sind die Vorschläge der Kollegen bezüglich des Abendprogramms. Da sind eine Menge kreative Ideen dabei.” Die beiden hatten ihre Kollegen im Vorfeld gefragt, was sie sich als weitere Programmpunkte wünschen würden. Zu ihrer freudigen Überraschung bekamen sie auch eine ganze Menge an guten Anregungen. Als sie die Liste überflogen hatten, stellte der Mentalist ernüchtert fest: “Au weia, da könnten wir ja noch drei weitere Abende dranhängen. Das ist ja überhaupt nicht alles machbar in der Zeit.” Der Agilist stimmte zu. “Und was machen wir jetzt?” fragte der Mentalist. “Ich würde vorschlagen, wir machen das gleiche, wie ich mit meinen Teams in so einem Fall machen würde” , antwortete der Agilist. “Und das wäre?” wollte der Mentalist wissen. “Wir gehen die Punkte durch und schauen uns mal grob an, wie viel Zeit die Durchführung in Anspruch nehmen würde.” Dem Mentalist gefiel die Idee. “So machen wir es. Wir schätzen die Vorschläge einmal durch und wählen dann die aus, die am besten in den dafür vorgesehenen Zeitrahmen passen.” Gesagt, getan, und schon bald notierte der Mentalist die weiteren Programmpunkte auf seinem Entwurf des Ablaufplans.
“Wann wollen wir denn den Abteilungsleitern die Zeit einräumen, um die sie für ihren Programmpunkt gebeten haben?” fragte der Mentalist nachdem er seine Notizen überflogen hatte. Der Agilist sah auf den vorläufigen Plan und zeigte dann mit dem Zeigefinger auf eine freie Stelle. “Hier würde doch gut passen” , sagte er. Der Mentalist schüttelte den Kopf. “Ich glaube nicht. Das wäre ja gerade einmal eine Viertelstunde Zeit.” Der Agilist sah ihn irritiert an. “Glaubst du denn nicht, dass eine Viertelstunde ausreicht?” Der Mentalist schüttelte den Kopf. “Nein, ich glaube, dass sie mindestens eine halbe Stunde Zeit brauchen werden. Sie wollen schließlich ein paar Personen auf die Bühne bitten und sich persönlich bei ihnen bedanken. Das wird schon etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen.” “Oh” , sagte der Agilist. “Wenn das so ist, dann hast du natürlich Recht. Ich war eher der Ansicht, dass sie einfach nur ein paar Sätze sagen wollten und ein paar Dankesworte an die Gäste richten wollten. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass sie da so ein Zeremoniell daraus machen wollten. Bist du dir denn sicher, dass das wirklich so geplant war?” Der Mentalist schüttelte den Kopf. “Nein, sicher bin ich mir auch nicht. Gut, dass wir darüber geredet haben und gemerkt haben, dass wir hier unterschiedliche Annahmen hatten. Ich werde mir das gleich notieren, dann können wir morgen bei der Arbeit nachfragen, was sie genau vorhaben” .
Die Zeit war nun schon sehr weit fortgeschritten und die beiden sahen sich ihre Liste an. “Wir haben alle wichtigen Programmpunkte soweit untergebracht und nichts wichtiges vergessen, oder?” fragte der Mentalist. Der Agilist überflog die Liste und nickte. “Wir sollten für die Einladung mal kurz durch die Liste gehen, damit wir den Kollegen auch mitteilen können, wie lange das Programm voraussichtlich dauern wird.” “Das ist einfach” , sagte der Agilist. “Dadurch, dass wir alle einzelnen Punkte grob abgeschätzt haben, ist anzunehmen, dass wir gegen spätestens 23 Uhr mit dem offiziellen Teil durch sind.” “Das ist doch ein Wort” , sagte der Mentalist mit einem Lächeln.
Es war Montagmorgen und der Agilist und der Mentalist waren bei einem Kunden, wo sie ein Team gemeinsam betreuten. Und zu ihrem Schrecken fanden sie sich nach dem Planungsmeeting des Teams im Büro des Chefs wieder. Dieser hatte zum ersten Mal persönlich an einem der Planungsmeetings teilgenommen um die Arbeitsweise des Teams kennenzulernen und hatte gleich im Anschluss um eine Unterredung gebeten. Er sah nicht besonders glücklich aus und er verlor auch nicht viel Zeit damit um den heißen Brei herum zu reden.
“Ich bin nicht glücklich, wie das Team, welches ich gerade besucht habe, seine Planungen durchführt. Das hat doch nichts mit professioneller Planung zu tun. Es gab ja noch nicht einmal Schätzungen” polterte er gleich los. Der Mentalist lehnte sich entspannt zurück. Darum ging es also. Gleich würde der Agilist antworten und den Sachverhalt klären. Das fiel eindeutig in dessen Kompetenzbereich. Er beobachtete wie sich der Agilist spannte und sammelte.
“Wie soll man denn zu einer ordentlichen Planung kommen, wenn wir keine Schätzungen haben”, fragte der Chef des Teams etwas angesäuert. “Wir müssen Pläne einhalten. Dafür müssen wir im Voraus Schätzungen vornehmen, um zu wissen, ob wir noch auf Kurs sind, oder ob wir Probleme bekommen. In sechs Monaten will der Kunde eine fertige Software haben. Ich habe erwartet, dass das Team einen straffen Plan erstellt hat. Aber wie sollte es das? Ohne Schätzung ist das unprofessionell.” Der Agilist sammelte sich kurz, dann antwortete er mit ruhiger Stimme: “Wissen Sie, Sie haben völlig Recht, wenn man davon ausgeht, dass Pläne immer genau aufgehen und wir keine unvorhergesehenen Ereignisse haben und auch etwas liefern wollen, das ziemlich klar voraussehbar ist. Allerdings versucht dieses Team eine sehr komplexe Lösung für den Kunden zu erstellen. Und da werden langfristige Pläne nicht funktionieren. Wir arbeiten ja jetzt schon länger mit dem Team zusammen und wir haben stattdessen eingerichtet, dass die Aufgabenpakete, die das Team sich einplant, alle ungefähr gleich groß sind. Außerdem sind zu jedem Review, welches alle zwei Wochen stattfindet, Kundenvertreter dabei, die sich Zwischenergebnisse ansehen und direktes Feedback an das Team geben. Dies ist viel effektiver als auf Pläne zu vertrauen, die auf Schätzungen beruhen und die mehrere Monate in die Zukunft schauen.” Der Chef legte den Kopf in den Nacken und dachte einige Zeit lang nach. Dann sagte er: “So habe ich das noch nicht betrachtet, das sehe ich ein.”
Doch der Chef fuhr gleich fort: “Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt, warum das Team gut daran tun würde, zu schätzen. Sie kennen doch sicher Parkinsons Law?” Der Agilist nickte. Wer hatte nicht von Parkinsons Gesetz gehört. Es sagte in etwa aus, dass die zu erledigende Arbeit immer so viel Zeit in Anspruch nimmt, wie zur Verfügung steht. Wenn man einen ganzen Tag Zeit zur Verfügung hat, dann kann es auch einen ganzen Tag dauern einen Brief zu schreiben. Wenn ich man nur fünf Minuten Zeit hat, dann kann es auch in der Zeit gelingen. “Wenn ich meine Mitarbeiter nicht dazu bringe, sich ambitionierte Ziele zu stecken, dann laufe ich doch genau in das Risiko, das Parkinsons Gesetz beschreibt”, sagte der Chef. “Ich muss also Druck ausüben, damit die Leute produktiver arbeiten. Dafür müssen sie schätzen, denn sonst gibt es ja noch nicht einmal einen solchen zeitlichen Rahmen. Oder falls sie nicht selbst schätzen wollen, dann können ja auch andere Fachleute die Aufgaben schätzen!”
Der Agilist sah hilflos zum Mentalisten hinüber. Zu seiner Überraschung schaltete sich dieser in das Gespräch ein. “Vergessen Sie Parkinsons Gesetz” , forderte der Mentalist sein Gegenüber auf. “Es hält sich zwar sehr hartnäckig und liest sich auch ganz nett, aber in der Forschung ist es nicht nur nicht bestätigt worden, sondern es gibt sogar Studien die es ganz klar widerlegen.” “Wirklich?” fragte der Chef nun mit vor Überraschung geweiteten Augen. “Ja, dazu gibt es sehr interessante Studien. Ich könnte jetzt auch in Details gehen, aber das tun wir ein vielleicht besser ein andermal* (*das Thema hält sich so hartnäckig, dazu wird es in Zukunft eine gesonderte Geschichte geben)”.
“Also ist Schätzen tatsächlich unnütz?” fragte der Chef nun etwas ernüchtert. “Nein, so pauschal kann man das nicht sagen” , antwortete der Agilist. “Es gibt sogar gute Gründe zu schätzen. Man sollte es nur aus den richtigen Gründen tun. Und das sind nicht die völlig unmögliche Vorhersage von komplexen Resultaten oder das Ausüben von Druck, mit der verbundenen Hoffnung, dass die Mitarbeiter unrealistische Ziele noch irgendwie halten.” “Und was sind dann die ‘guten’ Gründe fürs Schätzen?” wollte der Chef wissen. “Das kann ihnen mein Kollege sicher erklären” , sagte der Agilist mit einem Lächeln. Der Mentalist zuckte zusammen. “Ich?” fragte er seinen Kollegen verunsichert. “Ich habe doch keine Ahnung. Du bist doch der Profi.” Der Agilist lachte laut los. Die beiden anderen sahen ihn verwundert an. “Ach komm schon, denk mal an unsere Vorbereitung gestern und an unsere Diskussionen.” Der Mentalist dachte an ihre gemeinsame Planung der Gala am Vortag, dann machte sich schließlich eine Erkenntnis in ihm breit.
“Ein guter Grund Schätzungen vorzunehmen ist es, Abhängigkeiten zu durchschauen und eventuell aufzulösen. Etwa so, wie wir es mit den Eröffnungsreden und dem Buffet getan haben.” Der Agilist nickte zufrieden. “So ist es. Damit Abhängigkeiten erkannt und auch aufgelöst werden können, ist es hilfreich die Punkte zu schätzen. Das hat uns erleichtert eine sinnvolle Reihenfolge festzulegen.”
“Ein weiterer Grund für Schätzungen ist das vergeben von Prioritäten und das Treffen von Entscheidungen, so wie wir es mit der überfüllten Liste der Vorschläge gemacht haben.” Wieder nickte der Agilist anerkennend. “Genau. Schätzungen helfen auch dabei, Entscheidungen zu treffen, etwa wenn wir mehrere gleich groß abgeschätzte Punkte haben, die sich aber in dem zu erwartenden Wert unterscheiden. Oder wenn wir unterschiedlich große Punkte haben und diese in einen nur begrenzten Zeitrahmen pressen müssen. In beiden Fällen ist es hilfreich, Schätzungen zu haben, auf die man zurückgreifen kann. Hast du noch eine weitere Idee?” Der Chef, der ganz aufmerksam zugehört hatte, sah den Mentalisten fragend an.
“Hmm, ich denke das Herstellen eines gemeinsamen Verständnisses könnte von Schätzungen profitieren. Als wir über diesen Programmpunkt der Abteilungsleiter gesprochen haben und geschätzt haben, wie viel Zeit er in Anspruch nehmen würde, lagen wir weit auseinander. Als wir darüber sprachen, woher diese Differenz kommt, haben wir gemerkt, dass wir beide den Punkt unterschiedlich verstanden haben.” Der Agilist applaudierte. “So ist es. Und das ist vielleicht der wichtigste Grund für viele Schätzverfahren in Planungsmeetings. Man gibt damit allen Beteiligten den Raum für Diskussionen und erreicht am Ende ein gemeinsames Verständnis” .
“Ich möchte auch noch einen Punkt hinzufügen”, mischte sich nun der Chef ein. Agilist und Mentalist sahen ihn überrascht an. Der Chef fuhr fort: “Ich war zwar nicht bei ihrem Treffen anwesend, aber ich bin mir ziemlich sicher, nachdem was sie erzählt haben, dass sie am Ende auch eine Vorhersage treffen konnten, wie lange die Veranstaltung dauern würde, beziehungsweise wann ungefähr gewisse Programmpunkte an der Reihe sein würden.” Der Agilist nickte voller ehrlicher Anerkennung. “Genau. Die Vorhersage ist ein weiterer Punkt, bei dem Schätzungen hilfreich sind. Allerdings sollte man sich auch immer bewusst sein, dass es nur Vorhersagen sind. Ähnlich wie eine Wettervorhersage. Und genau so wären auch diese Vorhersagen zu behandeln. Je näher sie liegen, desto genauer…” “…und je ferner sie sind, desto unzuverlässiger”, vollendete der Chef den Satz mit einem Augenzwinkern.