Der Mentalist ärgerte sich. Er war in der Mittagspause schnell in den kleinen Laden am Ende der Straße gelaufen. Er hatte nicht viel Zeit, denn ein wichtiger Termin stand bevor. Er wollte nur noch schnell ein paar Kleinigkeiten besorgen, unter anderem seine Lieblingsschokolade, die ihm an stressigen Tagen das Leben immer etwas einfacher machte. Doch als er in dem Laden angekommen war, fand er sich in einem kleinen Chaos wieder. Vor der Kasse, an der eine tapfer kämpfende Kassiererin versuchte die Kunden zu bedienen, befand sich schon eine Schlange von neun Personen. Nach einem Blick in die Einkaufskörbe der Wartenden und einem groben Überschlag im Kopf, legte er seine drei Waren zurück ins Regal und verließ verärgert den Laden.
Später am Tag traf er seinen Freund, den Agilisten. “Mensch, du siehst aber missmutig aus, alter Freund”, stellte der Agilist fest. “Hmm”, brummte der Mentalist. “Was ist los?” hakte der Agilist nach. “Ich hatte einen ziemlich stressigen Tag. Und meine Schokolade ist ausgegangen.” Der Agilist lachte. Die Schoko-Sucht des Mentalisten war in Kollegenkreisen bekannt. “Ach, komm schon, ich wollte gleich eh in den kleinen Laden am Ende der Straße gehen, dann bringe ich dir eine Tafel mit”, versuchte der Agilist seinen Freund aufzuheitern. “Hmm”, brummte dieser wieder. “Da war ich heute auch schon und wollte mir Nachschub besorgen, aber das war leider völlig unmöglich.” Der Agilist horchte auf. “Wieso war das denn unmöglich?” wollte er wissen. “Nun, als ich an die Kasse kam, standen dort schon neun Leute in der Schlange. Ich musste aber zeitig wieder zurück im Büro sein, also habe ich den Laden unverrichteter Dinge wieder verlassen.”
Der Agilist nickte. “Ja, seit der neue Besitzer den Laden von Emma übernommen hat, habe ich schon öfter von Kollegen gehört, die wieder gegangen sind und sehr unzufrieden waren. Ich habe da so eine Vermutung, woran das liegen könnte. Wenn du morgen Zeit hast, lass uns doch mal gemeinsam in den Laden gehen.” Der Mentalist stimmte zu, und so verabredete man sich für den nächsten Nachmittag.
Als die beiden den Laden am nächsten Tag betraten, wanderte ihr erster Blick zur Kasse. Wieder stand eine große Warteschlange davor. Nicht so lang wie am Vortag, diesmal waren es nur fünf Leute. Aber selbst das erschien den beiden noch ziemlich lang. Der Agilist hielt Ausschau nach dem neuen Besitzer des kleinen Ladens. Schließlich entdeckten sie ihn in einem der schmalen Gänge bei der Inventur. “Entschuldigung”, sprach der Agilist ihn an, “darf ich sie kurz etwas fragen?” Der Ladenbesitzer war ein kleiner Mann, der sehr freundlich aussah. Er sah über seine Brillengläser hinweg die beiden Freunde an und nickte dann freundlich. “Ist ihnen aufgefallen, dass die Schlange vor der Kasse meistens so lang ist, dass viele Kunden entnervt den Laden wieder verlassen?” Der Ladenbesitzer legte seinen Inventurblock ins Regal, nahm die Brille ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte dann traurig: “Ja, natürlich. Und ich bin ehrlich gesagt total ratlos. Als ich den Laden übernommen habe, wollte ich unbedingt den Gewinn verbessern. Aber irgendwie wird gerade alles schlimmer. Dabei habe ich doch so viel dafür getan.” “Was haben sie denn getan?” fragte der Mentalist nun. “Ich habe natürlich versucht, die Abläufe zu optimieren”, verriet der Ladenbesitzer. “Wissen sie, wir sind hier zu zweit, aber die Kasse muss immer besetzt sein. Als ich bemerkt habe, wie viel Leerlauf meine Kollegin an der Kasse am Tag so hat, habe ich mir gleich gedacht, dass das ein guter Hebel zur Optimierung wäre.” “Wieso gerade das?” fragte der Mentalist. “Nun, sehen sie, es gibt gewisse Zeiten, da ist der Laden immer ganz ordentlich besucht gewesen. Aber es gab auch viele Zeiten, da war so gut wie niemand im Laden. Und die Kassiererin hat einfach untätig an der Kasse gesessen und nichts getan. Ich habe das sogar mal genau gemessen. Sie war nur zu 75% ausgelastet. Also habe ich 25% ihres Gehalts als Verlust gemacht, weil sie ja nicht gearbeitet hat. Somit habe ich mir gedacht, um den Gewinn zu steigern, muss ich ihre Auslastung erhöhen. Dafür habe ich neue Auslagen auf die Straße gestellt, die mehr Leute hereinlocken sollten. Und ich habe ein paar Aktionen in der Werbung gestartet. Das alles hat dazu geführt, dass tatsächlich mehr Leute in den Laden gekommen sind. Jetzt hat die Kassiererin einen Auslastung von 92%. Das ist zwar schon mal besser, aber das Gesamtergebnis ist immer noch nicht zufriedenstellend. Ich überlege gerade, wie ich ihre Auslastung auf die vollen 100% bekommen kann, damit ich keinen Verlust mehr an der Stelle mache…”
“Okay, okay, ich habe genug gehört”, unterbrach der Agilist. “Das was sie vorhaben kann doch nur nach hinten losgehen”. Der Ladenbesitzer sah den Agilisten fragend an. “Warum das denn?” “Sie optimieren an der falschen Stelle. Und ignorieren die Gesetze der Mathematik.” “Aber wieso? Ich versuche doch die Auslastung auf 100% zu bekommen, das ist doch unzweifelhaft besser als 92% oder sogar nur 75%.” “Nein”, antwortete der Agilist kurz und knapp. Der Ladenbesitzer schien nun sehr verunsichert. “Ich würde das gerne verstehen. Können sie mir vielleicht erklären, was sie damit meinen? Ich optimiere an der falschen Stelle?” Der Agilist lächelte. “Natürlich. Sehen sie, sie optimieren die Auslastung der Kassiererin. Das was sie dadurch erreichen ist aber nur eine beschäftigte Kassiererin. Und eine Warteschlange, die dazu führt, dass ihr Laden immer unbeliebter wird.”
Nun begann der Agilist mit der Erklärung der Warteschlangentheorie. “Lassen sie uns das Problem einmal mathematisch angehen. Zuerst schauen wir uns einmal an, wie viele Kunden man bei einer bestimmten Auslastung erwarten kann. Dies kann man berechnen, indem man folgende Formel benutzt.” Er nahm den Inventurblock des Ladenbesitzers und schrieb auf die Rückseite folgende Formel:
“Wenn wir hier jetzt die ursprüngliche Auslastung ihrer Kassiererin einsetzen, also 75%, dann ergibt das 0,75 geteilt durch eins minus 0,75 ist gleich drei. Also können wir bei einer Auslastung von 75% ungefähr drei Kunden erwarten. Diese kommen aber nicht gleichmäßig, sondern über den Tag verteilt. Mal kommen mehr, mal kommen weniger. Wir vereinfachen das ein klein wenig und gehen auch hier wieder von einer Auslastung von 75% aus. Dann können wir die Formel jetzt erweitern.”
“Die statistisch zu erwartende Länge der Warteschlange beträgt als 0,75 mal 3, also 2,25. Bei einer Auslastung der Kassiererin von 75% ist also die Warteschlange ungefähr zwei Personen groß.” “Hmm”, meldete sich der Mentalist, “wenn vor mir nur zwei Personen dran sind, dann bleibe ich auch in der Mittagspause da und stelle mich an. Dann ist ja schnell absehbar, wann ich drankomme.” Der Ladenbesitzer und der Agilist nickten zustimmend.
“Lasst uns nun einmal schauen, was mathematisch passiert, wenn wir jetzt die Auslastung steigern, so wie sie es hier getan haben”. “Ich ahne fürchterliches”, sagte der Ladenbesitzer, der langsam zu Begreifen begann. “Also, setzen wir mal in die Formel ein…”. Der Agilist kritzelte auf den Inventurblock, während die anderen beiden ihm fasziniert zuschauten.
Der Ladenbesitzer stand mit offenem Mund da, und auch der Mentalist war staunte nicht schlecht. “Wie wir sehen, haben wir statistisch jetzt eine Warteschlange, die größer als 10 ist. Da stellt sich doch kaum noch jemand an. Zudem wird das bei der armen Kassiererin in massiven Stress ausarten.” “Oh ja, ich sehe schon”, sagte der Ladenbesitzer seufzend. “Hier habe ich wirklich eine krasse Fehleinschätzung verfolgt. Und nicht auszudenken, wenn ich die Auslastung auf 100% gesteigert hätte…” “Da wären wir ungefähr bei 1000”, sagte der Mentalist, “da müssten sie den Laden deutlich vergrößern”. Die Kunden in der Warteschlange drehten sich verdutzt um, als sie das laute Gelächter der drei Männer aus einem der Gänge schallen hörten.
Wenige Tage später. Der Agilist ging zusammen mit seinem Freund, dem Mentalisten in der Mittagspause zu dem kleinen Laden. Der Mentalist war wieder einmal auf der Jagd nach einer guten Tafel Schokolade. Sie betraten den Laden und stellten überrascht fest, dass es mittlerweile zwei Schlangen gab, die aber sehr überschaubar waren. Der Ladenbesitzer hatte eine zweite Kasse organisiert und kassierte jetzt zu gewissen Stoßzeiten selbst mit. Als sie an der Reihe waren, berichtete der erfreute Ladenbesitzer, dass er sich die Inhalte ihres Gesprächs sehr zu Herzen genommen habe. Die Kassiererin sei jetzt deutlich entlastet. “Die Auslastung ist wieder ungefähr dort, wo ich sie bei der Übernahme vorgefunden habe”, berichtete er. “Ich habe die Auslagen draußen stehen lassen, das lockt mehr Menschen an. Aber ich kassiere jetzt mit und ich weiß jetzt, dass es gut für mein Geschäft ist, wenn meine Kassiererin auch mal die Hände in den Schoß legen kann. Und seit das so ist, pfeift sie auch wieder fröhlich wenn sie kommt.”
Auf dem Rückweg zum Büro sagte der Mentalist zu seinem Freund: “Unglaublich, wie ein guter Wille und Ansatz zu so viel Problemen führen kann.” Der Agilist nickte. “Ja, die Mathematik ist da sehr geradlinig und unnachgiebig. Man kann nicht mit ihr diskutieren. Gut, dass der Ladenbesitzer so einsichtig war und das schnell geändert hat. Diese Probleme kommen nämlich leider nicht nur an der Supermarktkasse vor.” Er erntete einen fragenden Blick vom Mentalisten. “Nun, wer ist meistens der meistbeschäftigste Mensch in einem Unternehmen? Der, wo man für einen Termin lange im Voraus bitten muss?” “Der Boss natürlich”, sagte der Mentalist. “Genau. Und eigentlich wäre es doch nur sinnvoll, dass derjenige, der am wichtigsten ist, eine möglichst geringe Auslastung hat, so dass er in den entscheidenden Fällen gleich eingreifen kann.” “Stimmt. Nur leider ist das ja in vielen Unternehmen echt ein Problem. Wenn man den Eindruck bekommt, das ist jemand nicht voll beschäftigt.” “Ja, da spielen noch eine ganze Menge anderer interessanter Punkte rein. Zum Beispiel WIP-Limits oder auch das Life-Alienation-Syndrom”. Wieder erntete er nur einen fragenden Blick. “Weißt du”, sagte der Agilist verschwörerisch, “dafür sollten wir uns irgendwann einmal etwas mehr Zeit nehmen.”