Organisation im Wandel der Zeit I

Teil I – Reaktiv und magisch

Der Agilist schob die Sträucher zur Seite und lugte hinüber zu der kleinen Höhle. Die Sonne stand hoch am Himmel und es war so heiß, dass ihm der Schweiß von der Stirn rann. In wenigen Metern Entfernung sah er drei Frauen und vier Kinder um eine Feuerstelle sitzen. Sein Freund, der Mentalist, gab ihm mit dem Ellenbogen einen Stoß in die Seite. “Und?”, fragte dieser. Doch noch vermochte es der Agilist nicht, einen klaren Satz hervorzubringen. Er versuchte sich zu erinnern, wie er in diese Situation gekommen war und was sein Freund eigentlich von ihm wollte…

Zwei Stunden zuvor…

“Ich verstehe nicht, wie eine Autofahrt uns weiterhelfen soll etwas über Organisationsformen und Organisationsentwicklung zu lernen”, sagte der Agilist zu seinem Freund, als sie das Gebäude verließen und sich auf den Weg zum Parkplatz machten. Sein Freund lachte ihn nur verschwörerisch an und bedeutete ihm zu folgen. Sie gingen durch die Reihen der parkenden Autos, bis sie schließlich auf dem Besucherparkplatz angekommen waren. Von ganz hinten winkte ihnen ein älterer Mann zu und der Mentalist winkte freudig zurück. Als sie näherkamen, konnte der Agilist erkennen, dass es sich bei dem älteren Mann um den Professor handelte, den sie auf ihrem letzten Ausflug (zum Thema Ich-Entwicklung) kennengelernt hatten. “Professor Gold-Braun, schön, dass sie es einrichten konnten”, begrüßte der Mentalist ihn. “Aber gerne doch, mein Freund”, antwortete der Professor freudig erregt, “ich kann es kaum abwarten mit euch zu starten”. Der Professor zeigte einladend auf einen amerikanischen Sportwagen mit Flügeltüren und forderte die beiden Freunde auf, einzusteigen. Den Agilisten beschlich so ein merkwürdiges Gefühl. Spätestens, als er auf der allzu engen Rückbank platzgenommen hatte und der Professor an einer Digitalanzeige rumfummelte, auf dem eine Menge Zahlen aufleuchteten, kam er sich vor wie in einem Science-Fiction Film aus den 80ern. Doch das hier war real. Und schließlich jagte der Sportwagen die Straße hinunter, immer schneller und schneller, bis…

Das Jahr 100.000 vor Christus

“Hey, Erde an Agilist”, sagte der Mentalist und stieß ihm erneut mit dem Ellenbogen in die Seite. “Entschuldige, sagte der Agilist, wie war noch mal die Frage?” Jetzt meldete sich Professor Gold-Braun zu Wort. “Meine lieben, wie sie schwerlich erkennen können, sind wir in einer Zeit gelandet, in der die vorherrschende und – mit Verlaub – auch einzig mögliche Organisationsform die Kleingruppe einer Familie ist. Der Aufbau und die Pflege von Beziehungen ist zu komplex. Es geht für die Menschen dieser Epoche einzig und alleine ums nackte Überleben, der Kampf Mensch gegen Natur, Fressen oder gefressen werden, Jagen und Sammeln… Und meine Frage war, ob sie das Paradigma kennen, aus der die Menschen dieser Epoche ihre Welt betrachteten?” “Das Paradigma?” wiederholte der Agilist, immer noch etwas überfordert mit der augenblicklichen Situation. “Ja, das Paradigma”, antwortete der Professor und schob nach: “sie haben doch über die Entwicklung der Denkweise und des Weltbildes bei den Menschen erfahren, als sie mich vor ein paar Wochen besucht haben. Die Paradigmen, wie Menschen ihre Welt sehen, wie sie denken und sich verhalten, haben sich auch evolutionär entwickelt. Die Menschen verschiedener Epochen mussten erst durch gewisse biologische, soziologische oder geschichtliche Veränderungen neue Denkweisen erlangen. Und die Menschen dieser Epoche hier sahen die Welt im sogenannten reaktiven Paradigma.” Der Mentalist fügte leise hinzu: “Wir befinden uns hier sozusagen am Anfang der Geschichte. Die Menschheit begibt sich gerade erst auf ihre Reise hin zu den modernen Organisationsformen.” Der Professor nickte zustimmend. “Genau. Und wenn sie das jetzt auf eine Phase der Ich-Entwicklung abbilden möchten, so würde das sehr gute mit der Stufe E0 passen, der selbstbestimmten Phase, in der sich Babys und ganz junge Kleinkinder befinden.” “Das heißt, die Menschen dort”, der Agilist zeigte auf die Feuerstelle, “sehen die Welt aus dem gleichen Paradigma wie Kleinkinder?” Seine beiden Begleiter nickten. “Genau, daher gibt es auch nur ganz einfache Beziehungen und keine Hierarchien.” Die drei Beobachter blieben noch ein paar Augenblicke und sahen ihren frühen Vorfahren bei ihrem Alltag zu. Schließlich schlichen die drei Besucher wieder zurück in den Wald, wo sie den Sportwagen geparkt hatten. Nachdem der Professor ein paar Tasten gedrückt hatte, schoss der Wagen auch schon hinaus aus seinem Versteck, vorbei an ein paar verdutzten Mammuts und war schließlich verschwunden…

Das Jahr 15.000 vor Christus

Dieses Mal hatten unsere drei Freunde ein besseres Versteck wählen müssen. Auch konnten sie nicht mehr so dicht an den Ort des Geschehens heranrücken, zu groß war die Gefahr, entdeckt zu werden. Aus ihrem Beobachtungsposten konnten sie dem merkwürdigen Treiben auf der kleinen Lichtung zwischen den Hütten sehr gut folgen. Eine Art Medizinmann tanzte mit einem Stock in der Hand in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Anwesenden Dorfbewohner. Alle waren in ein fast hypnotischen Singsang verfallen und bewegten sich im Rhythmus. Ein paar Männer und Frauen schlugen auf einfachen Trommeln.
“Hier sehen wir das magische Paradigma vorherrschen”, referierte der Professor. “Die Menschen haben sich weiterentwickelt und sind nun in der Lage in kleinen Stämmen zusammenzuleben. Die größten Stämme sind etwas über hundert Personen groß.” “Da kann man schon von einer gewissen Organisation sprechen”, sagte der Agilist. Der Professor nickte. “Das stimmt. Die Weltsicht dieser Menschen entspricht so ungefähr dem, das kleine Kinder bis zu zwei Jahren von der Welt haben. Die Menschen hatten auch noch so gut wie keinen Begriff von der Vergangenheit. Sie lebten ganz im Hier und Jetzt. Auch Projektionen in die Zukunft kamen fast gar nicht vor.” “Durch diese Einschränkung muss es sehr schwer sein, die Welt zu verstehen”, sagte der Mentalist nachdenklich. “Richtig”, stimmte Professor Gold-Braun zu. “Ursache-Wirkungs-Beziehungen waren für die Menschen in dieser Zeit so gut wie gar nicht nachvollziehbar. Daher nennt man dieses Paradigma eben auch das magische Paradigma.” “Aber so ein Stamm muss doch trotzdem eine bestimmte Organisationsform haben”, fragte der Agilist, “sonst würde das Zusammenleben ja auch in dieser überschaubaren Gruppe nicht funktionieren.” “Ja, hat er, aber noch ganz rudimentäre”, erklärte Professor Gold-Braun. “Zum einen wurden die Gruppen nie so groß. Die Natur und die einsetzenden Kriege zwischen den Stämmen trugen dazu bei. Zum anderen waren es zumeist die Stammesältesten, die Autorität und Status besaßen. Sie hatten die meiste Erfahrung. Auch wenn die Stammesgemeinschaft in der Gegenwart lebte, so gab es doch Erfahrungen, auf die sie zurückgreifen konnten. Und natürlich gab es auch schon einen begrenzte Aufgabenteilung”.
Ein leichter Regen setzte ein. Aus dem Dorf war ein Jubeln zu vernehmen und die Bewohner tanzten noch schneller und trommelten noch lauter. Unsere drei Besucher beeilten sich, zurück zur Zeitmaschine zu gelangen und möglichst nicht komplett durchnässt zu werden.

Als sie wieder im Auto saßen, fragte der Agilist: “Ich bin schon ganz gespannt, wo geht es denn als nächstes hin?” “Nach Hause, sagte der Professor. Ich bin total durchnässt.” Enttäuscht ließ sich der Agilist in seinen Sitz sinken. “Aber morgen”, sagte der Professor, “morgen machen sie sich auf die erste wirklich organisierte Gemeinschaft der Menschheitsgeschichte gefasst. Dann werden sie die tribale Organisation kennenlernen.” “Die tribale Organisation”, wiederholte der Agilist gespannt. Er konnte es kaum erwarten, mehr über diese zu erfahren.

(Für weitereführende Informationen: Frederic Laloux, “Reinventing Organisations”)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

5 Gedanken zu “Organisation im Wandel der Zeit I”